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re:publica 24 – Who cares?

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Logo der re:publica mit darüber geschriebenem Slogan für 2024 (WHO CARES?) der aussieht wie mit der Spraydose gemacht.

What?

Die re:publica beschreibt sich auf ihrer Website selbst als „das Festival für die digitale Gesellschaft“, und als „die größte Konferenz ihrer Art in Europa. Die Teilnehmer*innen der re:publica bilden einen Querschnitt unserer (digitalen) Gesellschaft. Zu ihnen gehören Vertreterinnen aus Wissenschaft, Politik, Unternehmen, Hackerkulturen, NGOs, Medien und Marketing sowie Bloggerinnen, Aktivistinnen, Künstlerinnen und Social Media-Expertinnen.“ In den vergangenen Jahren hat sich die re:publica aber neben Netzthemen auch zunehmend mit Politik und Gesellschaft insgesamt beschäftigt, da Digitales eben in einem großen Ausmaß auch ein gesellschaftliches ist. Themen wie Datenschutz, die (Nicht-)Regulierung der großen Plattformen vor allem die ‚big five‘ Alphabet (Google), Amazon, Apple, Meta Platforms (ehem. Facebook) und Microsoft, fehlende oder unzureichende Digitalisierung in der Verwaltung und viele weitere kamen hinzu.

In diesem Jahr hat sich der Veranstalter für das Motto „Who Cares?“ entschieden, ein englisches Motto, das in der Deutschen Übersetzung gleich drei Bedeutungen hat: Wer kümmert sich? Wer pflegt? Wen interessiert es? Und dieses Motto schlug sich auch voll im Programm nieder.

How?

Der Außenbereich mit einem roten Backsteinbäude im Hintergrund, einem grauen Anbauteil mit Metalldach und gläserner Wand in der Mitte und einem weiteren Backsteinbau rechts. Im Bildvordergrund laufende Menschen und Menschen auf Stühlen. Ein Plakat re:publica Who Cares ist zu erkennen.

An drei Tagen wurde von vielen tausend Menschen (der Veranstalter spricht von ‚ausverkauft‘ mit 30.000 Besuchenden) aus allen Lebensbereichen vorgetragen, präsentiert und diskutiert. Neben den üblichen Ausstellenden und Referierenden aus Tech und Medien waren diesmal auch andere Organisationen beteiligt. Eine Gruppe aus verschiedenen Bereichen der Accessibility-Szene stellte Möglichkeiten vor. In Vorträgen und Diskussionsrunden ging es um die Zukunft des Sozialstaats, die Entwicklung im Gesundheitswesen, um Neurodiversität, den Einsatz von Technik in der Pflege und Bildung und sehr häufig in diesen Zusammenhängen auch um die sogenannte künstliche Intelligenz. Hochkarätige Speaker:innen waren dabei, teilweise über Bekanntes sprachen, teilweise aber auch neue Aspekte einbringen konnten. Vizekanzler und Wirtschaftsminister Habeck, Außenministerin Baerbock, Gesundheitsminister Lauterbach und die SPD-Vorsitzende Saskia Esken (gleich an mehreren Runden beteiligt), EU-Parlamentspräsidentin von Leyen, Arbeitsminister Hubert Heil, ja selbst Volker Wissing gaben sich die Klinke in die Hand und brachten die politische Ebene mit all ihren Problemen ein. Aber in der Hauptsache waren Wissenschaftler und Praktiker da, die Einblicke in ihre Arbeit und Auswirkungen von Technik auf die Gesellschaft hier und anderswo gaben.

Blick in eine Ausstellungshalle mit Stahlträgerdecke, darüber Holz, im Hintergrund die Seitenwand aus Backsteinen mit grauen Toren und davon unerkennbare Stände und viel Menschen.

Ein Zombie der Digitalpolitik war immer wieder im Gespräch; die Vorratsdatenspeicherung ist einfach nicht totzukriegen, ebenso wie die Chatkontrolle. D64 konnte dabei in einem Panel zum wiederholten Male deutlich machen, dass die Auswirkungen eher gefährlich und zum Großteil unwirksam wären und die Diskussionen in hohem Maße populistisch geführt werden – und nicht zuletzt auch mit handfesten wirtschaftlichen Interessen untermauert sind.

Eindrücke

Wie üblich ist das Programm immer nur eine Seite eines solchen Events, die Gespräche am Rand spielen ebenso eine riesige Rolle, für manche eine größere als die Vorträge und Workshops. Auch ich konnte die re:publica für viele Gespräche nutzen, ich traf mich mit den Vereinskolleg*innen von D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt.

In diversen Einzelgesprächen konnte ich auch unser neues Videotool Inklusiva Call präsentieren und dafür Werbung machen und nicht nur Organisationen aus dem Bereich der Menschen mit Behinderungen interessieren sich dafür. Da sind wir natürlich auf die weitere Entwicklung ganz besonders gespannt, denn wir können das Tool noch zwei weitere Jahre entwickeln (gefördert von der Aktion Mensch).

Ich habe die Gelegenheit genutzt, mit einer Reihe anderer Organisationen zu sprechen, so z.B. mit der AWO, die in einer Region (Mönchengladbach) begonnen haben ihre Organisation als ‚Wohlfahrtsorganisation‘ zu hinterfragen und umzubauen, auch im Sinne der Digitalisierung aber eben verbunden auch mit weiteren Änderungen in Bezug auf Arbeitsgestaltung, Hierarchieebenen etc. Da sind leider längst nicht alle Verbände und Organisationen der ‚Wohlfahrtsverbände‘ auf einem solchen Weg. Mit Marina Weisband (auch D64-Mitglied) haben wir am Stand über Probleme gesprochen, die gerade für Menschen, die sowieso schon mit wenig Kraft ausgestattet sind, häufig eine ohne Hilfe von außen unüberwindbare Hürde darstellen.

Ungewusstes

Viele der Progammpunkte brachte dem Publikum relativ unbekannte Aspekte nah. So zum Beispiel die beiden Professoren Ladislaus Ludescher und Thorolf Lipp, die unter dem Titel ‚Der Globale Süden in den Medien? Nobody Cares!‚ Grafisch aufzeigen konnten, wie wenig über den globalen Süden in den Medien berichtet wird. 85% der Weltbevölkerung lebt im sogenannten globalen Süden, der Afrika, Mittel- und Südamerika und Teile Asiens umfasst. Wer darüber mehr wissen will, beim Humanistischen Pressedienst ist unlängst ein Artikel von Ludescher erschienen. Auch interessant ein Blick auf den afrikanischen Kontinent, wo viele Probleme auch daran hängen, dass sich niemand kümmert.

Mit KI? Ne, mit „KI“!

KI hier, KI da. Dem Thema begegnete man auf der re:publica natürlich an allen Ecken und Enden. Vom Thema Bildung, Sozialstaat, Demokratie, Gesundheit und Pflege, öffentliche Verwaltung (mehr dazu bei netzpolitik.org) und Forschung, kein Thema, dass es nicht mit KI zu tun bekommt. Dazu gab es eher positive Beiträge aber auch kritische Töne wie bei Eva Wolfangel mit der Frage wo Chatbots „auf dem Weg zur Superintelligenz“ stehen. Am Ende bleibt wieder die Erkenntnis, dass man KI doch besser in Anführungszeichen setzt, weil es weder eine genaue Definition gibt, noch tatsächliche Intelligenz (siehe nochmal Eva Wolfangel). Zu dem verhängnisvollen menschlichen Glauben, dass Eloquenz etwas mit Intelligenz zu tun hat empfehle ich diesen Artikel von Anna Ivanova (Englisch).

André Frank Zimpel zog in ‚KI und Neurodiversität‚ die Verbindungen zwischen KI und dem menschlichen Gehirn und zeigte insbesondere bei Menschen mit neurodivergenten Eigenschaften wie Autismus, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie oder Epilepsie. Häufig kommt bei diesen Menschen eine atypische Neuronale Vernetzung vor. Alle Menschen haben unterschiedliche Arten, wie das Gehirn funktioniert und die einzelnen Teile miteinander vernetzt sind, das ist unter Neurodiversität gemeint. Dabei bewegen sich viele Menschen in einem angenommenen ’neurotypischen‘ Bereich, funktionieren also in weiten Bereichen ähnlich. Menschen im Spektrum der Neurodivergenz haben größere Abweichungen, daher reagieren sie häufig auch unterschiedlich und nach außen hin ‚abweichend‘ von gesellschaftlichen Normen. Weil KI immer nur eine Durchschnittsberechnung vornimmt, egal wie groß die ‚gelernte‘ Datenmenge ist, können Menschen, die neurodivergente Eigenschaften haben ein wichtiges Mittel sein, um ‚out of the box‘ zu denken und auch wieder neue Denkwege zu gehen, die keine KI nachbilden kann.

Gemeinsam mit der Projektleiterin konnten wir schon erste Gespräche zum Projekt „Code of Conduct Demokratische KI“ führen. D64 wird hier in den nächsten 15 Monate gemeinsam mit 30 weiteren Vereinen und Organisationen aus der Zivilgesellschaft einen Leitfaden für die Verwendung in Vereinen und Organisationen erstellen. Erstellt werden drei „Whitepaper, die Möglichkeiten aufzeigen, wie KI im Sinne der Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität genutzt werden kann. Zudem werden praktische Handlungsempfehlungen und Textbausteine entwickelt, die Organisationen bei der Implementierung oder Weiterentwicklung von KI-Anwendungen unterstützen. Projektergebnisse werden kontinuierlich veröffentlicht und mit der Community und Stakeholdern diskutiert.“

Ohne „KI“

Stage 3 mit den vier Speakerinnen und der Moderatorin. In der Mitte Marina Weisband im Elektrorollstuhl, ganz rechts Saskia Esen.

Ja, es gab auch Themen ohne KI! In der Zukunft des Sozialstaats wird zwar auch „KI“ eine Rolle spielen, aber eher am Rande – zumal wenn die Spielregeln nicht geändert werden. Auch im Talk mit Gesundheitsminister Lauterbach kam „KI“ zwar vor aber nicht in der Hauptsache.

Who Cares? ist natürlich auch eine Frage in Bezug auf den Klimawandel und die Auswirkungen. Auch hierzu gab es eine lange Reihe von Panels mit bekannten Akteuren. Angefangen bei Eckhart von Hirschhausens Vortrag „Gesunde Menschen gibt es nur auf einer gesunden Erde“ über die Frage „#Klimafolgenanpassung – läuft uns die Zeit davon?“ mit Anja Käfer-Rohrbach und Fred Hattermann bis hin zum „Tatort Naturkrise – das Netzwerk des Lebens„. Maja Göpel beschäftigte sich mit „Ego-Fixation“ und wie wir alle die Frage „Who Cares?“ mit „ich“ beantworten können, damit im Umkehrschluss auch für alle Care stattfinden kann. Und auch zum Thema Klimafreundliche Mobilität gab es ein Panel.

Barrierefreiheit

Das Motto sorgte auch dafür, dass die Barrierefreiheit stärker berücksichtigt wurde als in den Vorjahren. Die Bühnen und Räume waren barrierefrei zugänglich – wenn auch manchmal noch schlecht beschriftet, es gab Ruhezonen für Menschen mit hoher Sensivität, mehr Sessions als bislang wurden untertitelt oder waren mit Gebärdendolmetschung versehen. Und aus den Reihen der Menschen mit Behinderung und von Organisationen aus unserem Bereich waren viele Vertreter*innen beteiligt.

An einem Stand waren gleich mehrere Gruppen gemeinsam vertreten, die verschiedene Projekte vorstellten, darunter ein KI-Tool zur Übersetzung in Leichte Sprache. Auch einen Workshop zur Erstellung Barrierefreier Inhalte gab es. Hier hat mein Hamburger Amtskollege Heiko Kuhnert gemeinsam mit dem Forscherehepaar Laura Marie und Chris Maaß das Wissen um die Erstellung der Inhalte an rund 35 Menschen weitergegeben, die in ihren Unternehmen für die Social-Media-Postings zuständig sind – so hat es die Umfrage am Anfang ergeben. Laura Marie war auch schon bei der inklusiva zu Gast und sie arbeitet als Gebärdendolmetscherin für Musik.

ein hoher Raum aus hellen Backsteinen. Zu sehen sind Menschen auf Stühlen, die nach vorne schauen. Die drei Referenten sitzen bzw. stehen links. Man erkennt Heiko Kunert, der eine dunkle Brille trägt und einen Block in Braille-Schrift auf den Knien hat. Fast verdeckt Prof. Maaß und dahinter stehend Dr. Laura Marie Maaß. Auf einem Monitor stehen die drei Namen unter deren Bildern. Ein Flipchart-Ständer steht neben dem Monitor, ist noch fast unbeschriftet.

Demokratie

Das Thema wie wir als Gesellschaft die Demokratie a) retten und b) weiterentwickeln können nahm ebenfalls breiten Raum ein, zumeist ging es um offene Daten und Plattformen, aber auch Bürgerbeteiligung auf lokaler Ebene war ein Thema.

Ohne KI kam auch der Vortrag von Jean Peters, der erklärt hat, wie der „Geheimplan gegen Deutschland“ aus, mit dem das Recherchenetzwerk Correctiv Anfang des Jahres nicht nur ein großes Presseecho ausgelöst hat, sondern auch die vermutlich größte Demonstrationswelle in Deutschland – gegen Rechts und Faschismus und für Demokratie. Die Vermeidung der Wiederkehr des Faschismus wurde auch in anderen Panels angesprochen.

Und im Jahr der Europawahl ging es natürlich auch um das EU-Parlament. Nico Semsrott hat hier sehr ernsthaft mit einem jungen SPD-Bundestagsabgeordneten (Fabian Funke) und Jan Schipmann (FUNK) diskutiert – das Panel fand im Rahmen des re:publica-Jugendablegers, der TINCON, statt.

Bühne mit weißer Leinwand, auf der steht der Titel des Talks Wie muss sich Europa verändern? Nico Semsrott, Jan Schipmann, Fabian Funke. Davor Zuschauerreihen. Fotografiert aus Reihe 5. rötliches Licht.

Zur Demokratie und zur Geschichte der re:publica gehört auch immer Feminismus. So auch in diesem Jahr. Und die re:publica IST weiblich und divers geprägt. Sowohl bei den Speaker:innen als auch bei den Besucher:innen gabe es mehr weibliche als männliche Teilnehmende. Gerade für eine Veranstaltung auch im technischen Bereich ist das eine starke Ansage.

Fazit?

Sehr viele der Sessions werden in den nächsten Tagen auf der Internetplattform der re:publica unter https://re-publica.com veröffentlicht werden, entweder als Videos oder als Audiomittschnitt.

Das ist auch gut so, denn wenn man da ist, schafft man in der Regel weniger Sessions oder Panels als geplant, weil es zwischendurch so viel zu reden und zu entdecken gibt. Die re:publica hat sich dieses Jahr sicher ein wenig neu erfunden mit der Einbindung der Jugendvariante tincon in die Hauptveranstaltung, mit der Abwendung von hauptsächlich technischen Themen. Damit steigt die Relevanz der re:publica in jedem Fall und für mich heißt es: wir sehen uns bei der #rp25!

Die ganze Bandbreite kann ich hier gar nicht abarbeiten – aber das muss auch nicht sein, dafür gibt es ja Medien…

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