Unser Gesundheitssystem steht vor tiefgreifenden Veränderungen. Zunächst einmal nicht, weil es politisch so gewollt ist und irgendjemand einen großen Plan von einer Neustrukturierung des Gesundheitssystems hat, sondern weil alleine der Demografiefaktor dies vorgibt und durch die Fehlstruktur der Finanzierung stationären Bereich die Kliniken vor dem finanziellen Zusammenbruch stehen.
Faktoren sind in der Hauptsache (aber längst nicht nur) folgende Problemstellungen:
- Zunehmender Mangel an niedergelassenen Haus- und Fachärzt:innen
- Zunehmend älter und damit kränker bzw. pflegebedürftig werdende Gesellschaft
- Wandel der Kliniklandschaft durch Kostendruck und Qualitätsanforderungen
In ganz Deutschland sind heute bereits rund 4.000 Hausarztniederlassungsmöglichkeiten unbesetzt. Das heißt es fehlen im Gegensatz zur Bedarfsplanung diese 4.000 Ärzt:innen. Gerade wurde wieder eine Studie des IGES im Auftrag der Robert-Bosch-Stiftung veröffentlicht, die dies bestätigt (Link zur Studie). Die Macher:innen der Studie rechnen 2035 bereits mit 11.000 fehlenden Hausärzt:innen. Auch in Rheinland-Pfalz macht sich dieser Mangel schon bemerkbar und mit Blick auf das Alter der Niedergelassenen Hausärzt:innen und Fachärzt:innen wird das Ausmaß in den nächsten Jahren auch deutlich.
Die Zahl der Ärzt:innen insgesamt steigt allerdings. (Achtung: die folgende Grafik zeigt Personen, NICHT Arztstellen!)
Wie diese Veränderungen in den nächsten Jahren bzw. Jahrzehnten genau aussehen werden, ist heute noch nicht vorhersagbar. Es gibt allerdings Anhaltspunkte und grobe Richtungen. Was genau passiert ist dann abhängig von der Politik und den Akteuren im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Die Patient:innenverbände hoffen zudem auf größeren Einfluss.
Ambulanter Bereich
Besonders deutlich ist die Veränderung bereits heute im ambulanten Bereich zu spüren.
In RLP sind Stand Februar 2021 bereits 261,5 Stellen für Hausärzte nicht besetzt.
Die Zahl der Hausarztpraxen und der Facharztpraxen in Deutschland nimmt seit Jahren ab, deutlich ist dies an den Statistiken erkennbar. Die Zahl der Ärzt:innen insgesamt steigt.
Der Niedergelassene Arzt stirbt aus
- Immer mehr Medizinstudent:innen geben an, nicht als Niedergelassene tätig zu werden.
- Angestrebt werden Teilzeitarbeit und Angestelltenverhältnis.
- Anteil Ärzt:innen in Teilzeitarbeit steigt von 1991 bis 2019 von 18,5% auf 38,6%.
- Vereinbarkeit von Beruf und Privatem wird zudem wichtiger.
- Anteil angestellter Ärzt:innen 2020 = 39.500 von 150.000 (Anteil im Vergleich zu 2010 verdreifacht)
Quelle: Studien und Befragungen der KVen oder der Ärztekammer, weitere Artikel z.B. hier, hier, hier.
Die Zukunft der Versorgung liegt bei
angestellten Ärzt:innen in:
- Gemeinschaftspraxen
- Medizinischen Versorgungszentren (MVZ)
- aktuell rund 22.000 Ärzt:innen in MVZ
- Ärzt:innen mit Ermächtigung in Kliniken
- sowie vermutlich zunehmend bei anderen Berufen im Gesundheitssystem.
Und: Die Zukunft der Medizin ist weiblich.
Situation in Rheinland-Pfalz
Etwas besser sieht es bei den Fachärzten aus - wobei die gesamte Altersverteilung keine einzelnen Problemlagen und besondere Verhältnisse abbilden kann - daher habe ich hier auch auf die Karte verzichtet.
Die genaue Altersverteilung ist den beiden folgenden Diagrammen zu entnehmen.
Eine Möglichkeit: Medizinische Versorgungszentren (MVZ)
Vorteile
- Gesicherte Struktur, auch bei Krankheit, Urlaub etc.
- Mehrere Fachbereiche an einem Ort
- Modernes Terminmanagement, Untersuchungsmöglichkeiten etc.
Aber auch Nachteile:
- Dezentral, Mobilität von Patient:innen gefordert
- Zunehmende Trägerschaft bei ‚Kapitalgesellschaften‘ etc. (insbesondere finanziell lukrative Gebiete wie Zahnmedizin, Orthopädie, Augenheilkunde)
- Konzentration auf Städte
MVZ: Aufgaben Patiente:innenorganisationen
- Sicherstellen der Erreichbarkeit – Forderung nach finanzierten Lösungen
- Sicherstellen, dass monetäre Strukturen aus der Krankenhausszene sich nicht wiederholen
- Verteilung im Land sicherstellen
Stationärer Bereich
Auch der stationäre Bereich unterliegt bereits Veränderungen. Diese sind aktuell aber statistisch noch nicht so deutlich sichtbar wie im ambulanten Bereich.
Zudem geben die vorliegenden Zahlen ein nur undeutliches Bild.
Nicht jede Zahl ist gleich aussagekräftig. So ist bei einer geringeren Bettenzahl auch zu berücksichtigen, dass die durchschnittlichen Liegezeiten im Krankenhaus sich stark verringert haben und ambulante Operationen (im ambulanten Sektor) zunehmend eine Rolle spielen.
Die Diskussionen werden hier im Bereich der Finanzierung (DRG-Problematik, Vorhalten von Kapazitäten) und Qualität (mehr Fälle eines Fachbereichs = höhere Qualität) geführt.
Zusammenfassend:
- Einerseits soll die möglichst wohnortnahe stationäre Versorgung erhalten bleiben
- Andererseits soll die Qualität der Versorgung steigen
Die
Die folgende Grafik zeigt die Zahl der Vollzeitstellen nicht Personenzahl!
Berufsbereich
Bei immer weniger Ärzten im ambulanten Bereich aber steigendem Bedarf der medizinischen Versorgung wird es zunehmend nötig, die Verantwortung auch auf andere Berufsgruppen zu verteilen. Dabei sind auch (für Deutschland) neue Berufsbilder im Entstehen z.B.:
- Physician Assistant (PA) – Arztassistent
- Nurse Practicioner – „Behandlungspflegekraft“
- Fachkraft für digitale Gesundheit
- Telemedizinische Assistent
Diese übernehmen im Auftrag des Arztes/der Ärztin selbstständig und in eigener Verantwortung bzw. nach Rücksprache Aufgaben der täglichen Behandlung oder Prävention (Vorsorgeuntersuchungen, Überprüfung von Werten).
Im Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz GVWG beantragte (Folge der 'Konzertierten Aktion Pflege', KAP): Verpflichtende Durchführung von Modellvorhaben zur Übertragung ärztlicher Tätigkeiten, bei denen es sich um die selbständige Ausübung von Heilkunde handelt, auf Pflegefachpersonen. (§64 d SGB V)
Unabhängig von den Modellvorhaben vorgesehen, aber auch in der KAP begründet: Verordnungsmöglichkeiten für qualifizierte Pflegefachpersonen für geeignete Leistungsbereiche der häuslichen Krankenpflege.
Digitalisierung
Drei Bereiche, die für Patient:innen besonders interessant sind bzw. sein können:
- E-Rezept
- Elektronische Patientenakte (ePA)
- DiGA – Digitale Gesundheitsanwendungen
Die LAG wird zur Digitalisierung im Gesundheitssystem voraussichtlich im Herbst eine Veranstaltung anbieten.
E-Rezept
Rezepte werden ab 2022 vom Arzt elektronisch an Patient:innen ausgestellt.
Patient:innen können entscheiden, ob sie den entstandenen Code an die Apotheke digital versenden oder in die Apotheke gehen.
Auch der Ausdruck bleibt weiter möglich.
Nach Arzneimitteln sollen in weiteren Schritten auch Verordnungen für Heilmittel, Hilfsmittel oder häusliche Krankenpflege per E-Rezept ausgestellt werden.
Elektronische Patientenakte (ePA)
Möglichkeit der Speicherung von Diagnosen, Behandlungsverläufen, bildgebender Diagnostik auf dem Speicher der sogenannten Telematik-Infrastruktur und der Nutzung per APP. Angebot verpflichtend für Ärzte und Behandler – nicht für Patient:innen. Trotz Einführung zum 1.1.2021 noch viele Fragezeichen.
Grundsätzlich gerade für Menschen mit chronischen oder komplexen Erkrankungen und Behinderungen ein gutes Instrument, um alle Informationen aktualisiert an einem Ort zu haben. Informationen, auf die alle Behandler dann Zugriff haben. Aber noch fraglich, ob die Ausgestaltung das wirklich so zulässt.
DiGA – Digitale Gesundheitsanwendungen
Rezeptierbare Apps (Smartphone oder Webanwendung) z.B. für Blutdruck- oder Zuckerwerte.
Noch sehr überschaubares Angebot (15 gesamt).
Fazit
Ich glaube nicht, dass man mit einem Lösungsansatz die Situation im Gesundheitssystem in den Griff bekommt. Dazu ist das gesamte System zu komplex und von zu vielen äußeren Faktoren abhängig, zudem sind strukturelle Bewegungen nur langsam umzusetzen.
Es bedarf vermutlich einer ganzen Reihe von Maßnahmen, die noch dazu flexibel und angepasst gehandhabt werden müssen, um auch in der Zukunft ein tragfähiges Gesamtkonzept zu haben. Dazu ist politischer Wille und der Wille der Parteien im Gemeinsamen Bundesausschuss notwendig. Aber leider bieten auch zur Bundestagswahl 2021 die Wahlprogramme der Parteien allesamt nicht wirklich einen Ansatz, aus dem man einen Willen zu grundsätzlichen Veränderungen erkennen kann.
Notwendige Bausteine, die verändert werden müssen nach meiner Sicht:
- Veränderungen an der Intersektoralität mit einer - idealerweise - Auflösung der Sektorengrenzen
- Veränderungen bei der Kooperation der Partner im Gesundheitswesen - mehr Zusammenarbeit, weniger Dinge wie doppelte Untersuchungen.
- Veränderungen in der Berufsstruktur - verteilte Verantwortung durch Anpassung bei den Prozessen und feiner graduierte Ausbildungen / Kompetenzstufen
- Patientenorientierung bei Planungen für
- Fachbereiche
- Mobilität
- Digitalisierung
Beachten müssen insbesondere die Patient:innenverbände dabei, dass die Veränderungen nicht vom Gewinnstreben einiger Akteure gesteuert sind. Letztlich muss den Akteuren wie Kassen, Ärzteschaft, Krankenhausträgern und nicht zuletzt auch der Politik immer wieder deutlich gemacht werden, dass das Geld im System nicht ihres ist sondern das der Versicherten.
Disclaimer
Durch unterschiedliche Angaben sind die in den Diagrammen und im Text verwendeten Zahlen aus verschiedenen Zeiträumen und daher mitunter nicht direkt zu vergleichen.
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